Thérèse Clerc, die „Amazone mit den weißen Haaren“

„Ich würde gerne ein Lied schreiben, ich habe schon den Refrain: Wenn alle Alten der Welt euch ihr Dynamit hinterlassen, dann gäbe das eine Bombe für morgen.“
(Thérèse Clerc, Liebe und andere Kleinigkeiten,
Teil 3 der Reihe Das Beste kommt noch, Sendung: 22.4.16, 22:45 Uhr)

Vor zwei Jahren habe ich Thérèse kennengelernt: eine energische, kreative, warmherzige und liebevolle Frau, die sich ohne Scheu als „Revolutionärin“ bezeichnete. Für sie war der Mai ’68 ein Erweckungserlebnis: In einer streng katholischen Familie aufgewachsen, heiratete sie sehr jung einen viel älteren Mann, bekam vier Kinder und hatte alle Mühe, mit dem Haushaltsgeld hinzukommen. Wollte sie mehr haben, „musste ich sehr nett zu meinem Mann sein“. Bei den Arbeiterpriestern hörte sie zum ersten Mal von Marx und Engels. Und dann kam die Studentenrevolte: „eine Befreiung aus dem Gefängnis, dem Gefängnis der Sprache, des Denkens und des Körpers“. „Wir waren erzogen, immer Ja zu sagen, und jetzt plötzlich wagten wir es, Nein zu sagen.“

Eine befreite Frau

Thérèse befreite sich, „kollektiv, mit meinen Freundinnen“ – mit Mitte 40 ließ sie sich scheiden, zog in eine kleine Wohnung in Montreuil bei Paris, wo bald alle Intellektuellen, Politiker/innen und Aktivist/innen der Bewegung ein und aus gingen. Doch die Befreiung war auch körperlich: Statt Männern liebte sie nun Frauen – und entdeckte „das Wunder der Klitoris“. Das sei doch auch im Alter ein Vorteil, meinte sie grinsend: Schließlich lebten Frauen doch im Durchschnitt viel länger als Männer!

Thérèse Clerc © Sabine Jainski
Thérèse Clerc © Sabine Jainski

Im Jahre 2000 gründete Thérèse in ihrer Stadt Montreuil (bei Paris) ein Frauenzentrum, das heute ihren Namen trägt, und dann stürzte sie sich in das Abenteuer, das erste Wohnprojekt für ältere Frauen in Frankreich zu gründen, „Les Babayagas“, zu deutsch: Die Hexen. Dort drehten wir im Oktober 2014, wie sie die „Unisavie“ eröffnete: Die Universität vom Lebenswissen der Alten. „Ich will auf keinen Fall die Art von Bespaßung, die man in Altersheimen erlebt – das bringt mich zur Verzweiflung! Also lasst uns eine Volksuni gründen!“

Die letzte Liebe

Die Leute sollten sich Geschichten erzählen, Geschichten „von der letzten Liebe: Wie weiß man, dass es die letzte ist? Wie kann man sicher sein?“ Sie selbst hatte sich vor kurzem in eine Frau verliebt, und sie war überzeugt: „Das ist meine letzte Liebe.“ Sie sollte recht behalten: Am 16. Februar ist Thérèse, diese so energische Amazone, im Alter von 88 Jahren an Krebs gestorben.

Thérèse Clerc mit dem Team @ Björn Geldermann
Thérèse Clerc mit dem Team @ Björn Geldermann

Thérèse lebte nicht nur in Zweierbeziehungen, sondern sie hatte ein ganzes Netz von Freunden und Freundinnen, Familie, echten und spirituellen Kindern, Kolleginnen und Mitstreiter/innen um sich. Sie war eine wahre Lebenskünstlerin und damit ein echtes Vorbild für jeden alternden Menschen. Unser Film „Liebe und andere Kleinigkeiten“ ist ihr Vermächtnis:

„Je älter du wirst, desto dichter wird die gegenwärtige Minute, weil der Tod am Ende des Weges wartet, und der Weg wird jeden Tag kürzer. Die gegenwärtige Minute ist unendlich kostbar, ich muss sie bearbeiten wie eine Künstlerin. Die Kunst des Lebens besteht darin, mit anderen zu kommunizieren, mit allen Mitteln, die uns dazu gegeben sind, die fünf Sinne, vor allem die Sprache, aber auch die Berührung.“

Erleben Sie die großartige Thérèse noch einmal in unserer Dokumentation Liebe und andere Kleinigkeiten am 22. April in ARTE!

Schreibe einen Kommentar